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Teilprojekt D6


Heldenhaftes Warten – Erwartete Helden. Heroischer Attentismus in der deutschen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts

Teilprojektleitung: Prof. Dr. Achim Aurnhammer; Mitarbeiter/in: Isabell Oberle, Dr. Nicolas Detering

 

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Das Teilprojekt widmete sich dem Phänomen des ‚heroischen Attentismus‘ in der europäischen Literatur zwischen 1900 und 1930. Unter Attentismus verstehen wir eine Konstellation zwischen der Heroisierung des Abwartens, Ausharrens und Durchhaltens einerseits und den prophetischen Entwürfen heroischer Erwartungen und Sehnsüchten andererseits. Ziel war es, den Attentismus als ein Spezifikum der Moderne zu konturieren und als eine weltanschaulich oder ethisch fundierte Haltung zu beschreiben. Durch eine Modifikation des Programms, die sich durch die Neubesetzung der Bearbeiterstelle durch Isabell Oberle ergab, rückten Figurationen des Durchhaltens und Wartens in den Mittelpunkt, wohingegen prophetische Entwürfe zurücktraten. Das Teilprojekt gliederte sich infolge des personellen Wechsels in zwei einander ergänzende Arbeitsvorhaben: Arbeitsvorhaben A untersuchte attentistische Konstellationen in der späten Lyrik Stefan Georges, während Arbeitsvorhaben B ein dramenästhetisches Modell heroischen Wartens ausgehend von Weltkriegsdramen (1914–1933) erarbeitete. Der vormalige Bearbeiter Nicolas Detering beschäftigte sich mit Erscheinungsformen heroischen Durchhaltens in der deutschen Literatur zwischen 1900 und 1945. Seine Ergebnisse resümierte er paradigmatisch in einem jüngst erschienenen Aufsatz (Detering 2019). Gemeinsame erkenntnisleitende Fragen, etwa nach diachronen Verschiebungen, nach Kultur- und Genrespezifika oder nach geschlechtlichen wie generationellen Codierungen verbanden die individuellen Arbeitsvorhaben. Integrativ war vor allem das gemeinsame Bemühen um den heroischen Attentismus als literarisches Phänomen, seinen ästhetischen Repräsentationen und gattungsspezifischen Eigenheiten.

Um attentistische Konstellationen in Stefan Georges Werk zu beschreiben, wählte Arbeitsvorhaben A (Achim Aurnhammer, Neue Deutsche Literatur) drei Gedichtzyklen des Spätwerks: den Siebenten Ring (1907), den Stern des Bundes (1914) und das Neue Reich (1928). Als zentrale Merkmale von Georges Attentismus erwiesen sich erstens die Kollektivierung des Wartens zu einer generationellen wie homosozialen, nämlich männlich gegenderten Erfahrung (junge Männer), zweitens die messianische Ausrichtung des Wartens auf die kultstiftende Erlöserfigur Maximin sowie drittens die Einführung eines ‚heroischen Mittlers‘, der seine tatbereite Gesellschaft zum Warten und Erdulden der defizitären Gegenwart gemahnt (z.B. im Gedicht Brich nun unsrer lippe siegel aus dem Stern des Bundes). Durch den verheißenen Endpunkt, der dem geduldigen Ausharren ex post einen Sinn in Aussicht stellt, sowie durch die Heroisierung des Wartens als ‚Dulden‘ wird das Warten doppelt aufgewertet. Indem es einer ausgewählten Gruppe von Eingeweihten als heroische Pflicht auferlegt wird, wirkt der Attentismus auch als Herrschaftsstrategie: Allein der ‚Meister‘ bzw. Mittler kann die Wartesituation auflösen oder ihr Sinn verleihen. Das heroisierte Warten auf die messianische Figur hat die Gestalt einer ‚attentistischen Trias‘. Es bedarf einer Verehrergemeinde, eines Mittlers – des ‚Meisters‘ –, und des Erwarteten. Die attentistische Haltung verselbstständigt sich bei George dahingehend, dass sie sich von ihrer Erfüllung löst und sogar unabhängig vom ersehnten Objekt heroische Qualitäten annimmt. Kulturkritisch missbilligt George die blinde Tatbegeisterung, klassifiziert die Nachkriegsgegenwart als Brückenzeit und installiert das erwartungsvolle Ausharren auf eine Führerfigur als adäquaten Modus der Gegenwartsbewältigung. Georges heroische Erwartungen beweisen die affizierende Kraft heroischer Vorbilder und Führerfiguren gerade in Krisen- und Umbruchssituationen wie der Weimarer Republik. Der herbeigesehnte Messias wird bei George noch in seiner Absenz projektiv gestaltet und affektiv aufgeladen. Die Verheißung einer erlösenden Kraft sichert der erwarteten Figur eine affektive Bindung und unbedingte Gefolgschaft im Voraus. Damit macht George die Wartegemeinschaft seines Kreises zu Verheißungserben einer in der Dichtung profilierten und in der Latenz bewährten Elite und Führer-Ideologie.

Während Arbeitsvorhaben A Georges Attentismus als Beispiel des zivilisationskritischen Diskurses der Weimarer Republik behandelte, widmete sich Arbeitsvorhaben B in Form des Dissertationsprojektes „Heroischer Attentismus. Wartende Helden in der europäischen Dramatik der Zwischenkriegszeit“ (Isabell Oberle, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft) seiner Ausprägung im Ersten Weltkrieg, der als erster industrialisierter und totalisierter Krieg traditionelle Vorstellungen von Heldentum außer Kraft setzte und ein oppositionelles, statisches Modell des Heroischen hervorbrachte. Sowohl im Feld als auch in der Heimat war das Warten zur generationellen Erfahrung geworden und in einen Heroismus des Ausharrens und Ertragens überführt worden (Ideal der ‚stählernen‘ Nerven im Stellungskrieg, ‚stilles‘ Heldentum der Mütter und Ehefrauen). Die Untersuchung kombinierte ein close reading-Verfahren exemplarischer (Kriegs-)Dramen mit extensiv-vergleichenden Überblicken über die Dramenproduktion zwischen 1914 und 1933 in Deutschland, Österreich, Frankreich und Großbritannien, um einerseits die poetische Eigenleistung der Theatertexte zu erfassen und andererseits nationalkulturelle wie diachrone Spezifika attentistischer Konstellationen herauszuarbeiten. Das Textkorpus gliederte sich in vier Kategorien bzw. Subgenres, in welchen das Warten jeweils strukturell dominant ist: erstens ‚Frontstücke‘ (Dramen, die an der militärischen Front situiert sind, z.B. Robert Cedric Sherriffs Journey’s End [1928]), zweitens ‚Frauenstücke‘ (Dramen, die sich mit der Situation der Frau an der ‚Heimatfront‘ befassen, z.B. Ilse Langners Frau Emma kämpft im Hinterland [1928]), drittens ‚Heimkehrerdramen‘ (z.B. Paul Raynals Le tombeau sous l’Arc de Triomphe [1924]), und viertens Transpositionsdramen. Damit gemeint sind Theatertexte, die zwar noch auf den Ersten Weltkrieg referieren, aber die Konfiguration des heroischen Wartens in ein historisches Sujet verlagern wie Hugo von Hofmannsthals Der Turm (1928) oder ins Mythische entrücken wie Paul Claudels Le soulier de satin (1929). Die Analyse zeigte, dass heterogene Deutungen über das heroische Warten und Durchhalten miteinander konkurrierten. Während manche Texte dem Heroismus des Aushaltens angesichts der eingeschränkten Handlungsmacht eine schroffe Absage erteilten, inszenierten andere das Warten und Durchhalten als heroischen Habitus. Dieser zeichnete sich erstens aus durch die Selbstermächtigung auch bei fehlenden Handlungsoptionen, die durch die bewusste Affirmation sua sponte generiert werden kann, zweitens die Verlagerung des agonalen Moments nach innen, das als Bewährung gegen den Tatendrang zum Ausdruck kommt, drittens das Ideal der Opferbereitschaft im Sinne einer freiwilligen und aktiv vollzogenen Hingabe und Selbstaufgabe für das Kollektiv (‚sacrifice‘) sowie viertens die Motivierung durch ein Pflichtethos gegenüber dem Vaterland. Beglaubigt wurde die Heroik zusätzlich durch patriotische Lieder, Schlachtenmythen (z.B. Verdun) oder antike bzw. christliche Präfigurate (Jesus Christus, Schmerzensmutter).

Die gemeinsamen Ergebnisse beider Arbeitsvorhaben haben übereinstimmend gezeigt, dass der literarische Attentismus Transformationen und Funktionen des Heroischen in der Moderne reflektiert. Neben der industriellen Technisierung des Krieges verlangten auch die zunehmende Demokratisierung, Ökonomisierung, Bürokratisierung, Rationalisierung und Säkularisierung nach alternativen und zeitgemäßen Heldennarrativen, die sowohl statischer als auch prospektiver Natur sein konnten, also das Aushalten und Überdauern der Gegenwart in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft in den militärischen Metaphern vom ‚Stellung halten‘ oder ‚verlorenen Posten‘ heroisierten. Somit verstärkte der Erste Weltkrieg Dynamiken, die bereits vor der Jahrhundertwende eingesetzt hatten. Die Entwicklung des heroischen Attentismus verlief gleichwohl nicht linear: Heterogene Ausdeutungen konkurrieren im einzelnen Text sowie zwischen verschiedenen Texten miteinander, sodass die literarische Bewertung des heroischen Attentismus häufig ambig bleibt. Entscheidend für den und im literarischen Attentismus ist die Heroisierung der Haltung bzw. des Ethos. Der Akzent verschiebt sich von einer äußerlichen Tat zu inneren Kämpfen und Beweggründen, sodass das Heroische zu einer Bewährungsprobe wird, die keines äußeren Antagonisten mehr bedarf, sondern gegen und mit sich selbst ausgetragen wird.

 

Aurnhammer, A. 2016: Georg Büchner: „Helden-Tod der vierhundert Pforzheimer“ (1829), in: A. Aurnhammer/U. Bröckling (Hrsg.): Vom Weihegefäß zur Drohne. Kulturen des Heroischen und ihre Objekte. Würzburg, 158–172.

Aurnhammer, A. und Bröckling, U. (Hrsg.) 2016: Vom Weihegefäß zur Drohne. Kulturen des Heroischen und ihre Objekte. Würzburg.

Aurnhammer, A. 2017: Friedrichs II. „Montezuma“ (1755) – ein aztekischer „Anti-Machiavell“, in: A. Aurnhammer/B. Korte (Hrsg.): Fremde Helden auf europäischen Bühnen 1600–1900. Würzburg, 145–164.

Aurnhammer, A. 2017: Heroenkult als Gegenwartskritik. Stefan Georges Zeitgedichte, in: J. Egyptien (Hrsg.): Stefan George-Werkkommentar. Neue Studien und Interpretationen zum dichterischen Werk. Berlin/Boston, 335–355.

Aurnhammer, A. und Korte, B. (Hrsg.) 2017. Fremde Helden auf europäischen Bühnen (1600–1900). Würzburg.

Aurnhammer, A. und Klessinger, H. 2018: Was macht Schillers Wilhelm Tell zum Helden? Eine deskriptive Heuristik heroischen Handelns, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 62, 127–149.

Aurnhammer, A. 2019: Kollektiver Attentismus in Stefan Georges Spätwerk, in: I. Oberle/D. Pulina (Hrsg.): Heldenhaftes Warten in der Literatur. Eine Figuration des Heroischen von der Antike bis in die Moderne. Baden-Baden, 177–197.

Aurnhammer, A. 2019: „Make Death Proud to Take us“. Der Tod der Cleopatra in Literatur und Kunst der Frühen Neuzeit, in: C. Brink/N. Falkenhayner/R. von den Hoff (Hrsg.): Helden müssen sterben. Von Sinn und Fragwürdigkeit des heroischen Todes. Baden-Baden, 81–101.

Aurnhammer, A. und von den Hoff, R. 2019: „Reiterstandbild“, in: R. G. Asch/A. Aurnhammer/G. Feitscher/A. Schreurs-Morét (Hrsg.): Compendium heroicum, publiziert vom Sonderforschungsbereich 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen“ der Universität Freiburg. DOI: 10.6094/heroicum/rsbd1.0.

Aurnhammer, A. 2020: „Der chinesische Held“ – ein Opernstoff aus dem alten China im aufgeklärten Europa, in: A. Aurnhammer/C. Zhuanying (Hrsg.): Deutsch-chinesische Helden und Anti-Helden. Strategien der Heroisierung und Deheroisierung in interkultureller Perspektive. Baden-Baden, 61–74.

Aurnhammer, A. und Zhuangying, C. (Hrsg.) 2020: Deutsch-chinesische Helden und Antihelden. Strategien der Heroisierung und Deheroisierung in interkultureller Perspektive. Baden-Baden.

Detering, N. 2019: Heroischer Fatalismus. Denkfiguren des ‚Durchhaltens‘ von Nietzsche bis Seghers, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, Neue Folge 60, 317–338.

Oberle, I. und Schubert, S. 2018: „Unbekannter Soldat“, in: R. G. Asch/A. Aurnhammer/G. Feitscher/A. Schreurs-Morét (Hrsg.): Compendium heroicum, publiziert vom Sonderforschungsbereich 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen“ der Universität Freiburg. DOI: 10.6094/heroicum/unbekannter-soldat.

Oberle, I. 2019: Herausforderung Drama. Heldenhaftes Warten auf der Bühne am Beispiel des Ersten Weltkriegs, in: I. Oberle/D. Pulina (Hrsg.): Heldenhaftes Warten in der Literatur. Eine Figuration des Heroischen von der Antike bis in die Moderne. Baden-Baden, 155–176.

Oberle, I. und Pulina, D. (Hrsg.) 2019: Heldenhaftes Warten in der Literatur. Eine Figuration des Heroischen von der Antike bis in die Moderne. Baden-Baden.

Oberle, I. und Müller, C. 2019: „Durchhalten“, in: R. G. Asch/A. Aurnhammer/G. Feitscher/A. Schreurs-Morét (Hrsg.): Compendium heroicum, publiziert vom Sonderforschungsbereich 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen“ der Universität Freiburg. DOI: 10.6094/heroicum/durd1.0.

Oberle, I. 2020: Gu Hongming: Vom Kulturvermittler zum Kulturheros?, in: A. Aurnhammer/C. Zhuanying (Hrsg.): Deutsch-chinesische Helden und Anti-Helden. Strategien der Heroisierung und Deheroisierung in interkultureller Perspektive. Baden-Baden, 117–128.

Oberle, I. 2020: Held(in) und Publikum. Zu einem Verhältnis bei George Bernard Shaw und Jean Giraudoux, in: B. Beßlich/N. Detering/D. Martin/M. Zanucchi (Hrsg.): Geistesheld und Heldengeist. Studien zum Verhältnis von Intellekt und Heroismus. Baden-Baden, 281–294.

Oberle, I. 2021: Ethischer Attentismus. Hugo von Hofmannsthals Turm-Projekt (1925/27), in: S. Neuhaus/N. Mattern (Hrsg.): Warten. Konstruktionen von langer und kurzer Dauer in der Literatur. Würzburg (i.E.).

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