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Teilprojekt D12


Soziologische Zeitdiagnosen zwischen Postheroismus und neuen Figuren des Außerordentlichen

Teilprojektleitung: Prof. Dr. Ulrich Bröckling; Mitarbeiter: Dr. Tobias Schlechtriemen, Dr. Christian Dries

 

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Das Teilprojekt hat soziologische Zeitdiagnosen im Hinblick auf emblematische – heroische wie nicht-heroische – Sozialfiguren sowie auf die Deutung der Gegenwartsgesellschaft als postheroisch untersucht.

Dabei knüpfte das Teilprojekt an die wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchungen des Teilprojekts B7 aus der ersten Förderphase an, die sich historisch auf die Konstitutionsphase der Soziologie im 19. und frühen 20. Jahrhundert und thematisch auf die der a-heroischen Ausrichtung der Disziplin zuwiderlaufenden heroischen Motive konzentriert hatten. Diese Forschungen wurden nun von der Zeit ab dem Ersten Weltkrieg bis in die Gegenwart fortgesetzt und im Hinblick auf das Spannungsfeld von heroischen und postheroischen Orientierungen ausgeweitet. Bei der Analyse waren drei Aspekte forschungsleitend: erstens, der Gegenwartsorientierung der untersuchten Texte durch eine vergleichende und historisierende Perspektive entgegenzuwirken; zweitens, ein besonderes Augenmerk auf die figurativen Darstellungen und ihre epistemischen Leistungen und Funktionen für die Plausibilisierung der soziologischen Beschreibungen zu legen; und drittens, die soziologischen Schriften und ihre sozialfigurativen Darstellungen als gesellschaftliche Selbstbeschreibungen zu verstehen und somit als Zeitdokumente, an denen sich sowohl Problematisierungen und Neubesetzungen des Heroischen als auch die Rolle des Einzelnen in der jeweiligen Gegenwartsgesellschaft ablesen lassen.

Die Untersuchungen gliederten sich in zwei Teilstudien (1) zu den prägenden Sozialfiguren soziologischer Gegenwartsdiagnosen des 20. und 21. Jahrhunderts sowie (2) zum Diskurs des Postheroismus.

(1) In einer systematischen Sichtung soziologischer Texte im Hinblick auf sozialfigurative Darstellungen (Tobias Schlechtriemen, Christian Dries) wurde zunächst die Fülle und Vielfalt von Sozialfiguren herausgearbeitet. Auch wenn diese Figuren ein wesentliches Darstellungselement soziologischer Gegenwartsdiagnosen bilden, wurde ihre Bedeutung bisher kaum methodologisch oder theoretisch reflektiert. Exemplarisch wurden in der Teilstudie nun einzelne Sozialfiguren wie Siegfried Kracauers ‚Angestellte‘, David Riesmans ‚außen-geleiteter Charakter‘ oder Richard Sennetts ‚flexibler Mensch‘ im Hinblick auf ihre Eigenschaften und Funktionsweisen genauer untersucht. Dabei zeigte sich, dass Sozialfiguren in der Regel nicht alleine auftreten, sondern in figurative Konstellationen eingebunden sind, von Nachbarfiguren oder Gegenspielern begleitet werden. Außerdem konnte gezeigt werden, dass zu den interfigurativen Bezügen der Sozialfiguren auch Vorläufer (‚Präfigurate‘) gehören. Anhand der Sozialfigur des Arbeiters ließ sich verdeutlichen, wie diese im Laufe des 20. Jahrhunderts konturiert wurde und wie dabei – etwa in den Beschreibungen der flexibilisierten Arbeitswelt (bei Sennett) oder dem ‚Künstlerarbeiter‘ (Pierre-Michel Menger) – historisch frühere Figurationen meist implizit, teilweise explizit aufgegriffen und umgearbeitet wurden.

Im Rahmen der soziologischen Beschreibungen werden die Sozialfiguren mit ihren Wesenszügen und einem kurzen Abriss ihrer Geschichte skizziert und vor Augen gestellt. Sind sie einmal in dieser Weise aufgerufen, kann auf sie ergänzend und begleitend zur soziologischen Argumentation und Begriffsbildung immer wieder verwiesen werden. Sie folgen dabei nicht einer diskursiv-schlussfolgernden, sondern einer sich an der Erfahrung und Anschaulichkeit orientierenden Plausibilisierung. Wenn Sozialfiguren als gesellschaftliche Selbstbeschreibungen in dieser Weise wissenschaftlich ernst genommen werden, können sie explorativ auf gesellschaftliche Erfahrungs- und Problemlagen verweisen, die sich hier anfänglich in figurativer Form artikulieren. An sie können sich wiederum – das zeigt das Beispiel von Riesmans einschlägiger Figurenbildung – empirische Studien und theoretische Konzeptionen anschließen. Figurative Darstellungen können und sollten weder statistische Erhebungen noch die definitorische Begriffsbildung ersetzen, aber sie können letzterer vorgelagert sein und sollten selbst an eigenen Qualitätskriterien untersucht und beurteilt werden. Neben epistemischen haben Sozialfiguren auch gesellschaftliche Funktionen. Als Form gesellschaftlicher Selbstbeschreibung spielen diese Figuren als ‚gestalthafter Fokus gesellschaftlicher Selbstverständigung‘ eine besondere – weil erfahrungsnahe und identifikatorisch hoch funktionale – Rolle.

Wie bereits in der ersten Förderphase wurde der thematische Kontext des SFB genutzt, um an die Soziologie für sie unübliche Fragen zu stellen. Wurden in der ersten Projektphase ausgehend von Heldinnen und Helden als Ausnahmegestalten soziologische Theorien des Exzeptionellen systematisch aufgearbeitet und somit Zugänge zum ‚Anderen‘ der Ordnung erarbeitet, so lag nun der Fokus auf figurativen Elementen und ihren Funktionsweisen im Rahmen soziologischer Theoriebildung. Dazu wurden philosophische, kulturwissenschaftliche und soziologische Figurationstheorien gesichtet und aus ihnen ein Analyseinstrument erarbeitet, mit dem dann die verschiedenen Formen von Figuren in der Wissenschaftsgeschichte der Soziologie untersucht werden konnten, von den Selbstbeschreibungen der frühen Soziologen als ‚Gründungsfiguren‘ bis zu den Sozialfiguren, die in der Form exemplarischer Individuen die prägenden Erfahrungen und Charakteristika einer Gegenwartsgesellschaft verkörpern.

(2) Die zweite Teilstudie (Ulrich Bröckling) widmete sich dem gegenwartsdiagnostischen Befund der postheroischen Gesellschaft, wie sie seit den 1980er-Jahren insbesondere im Zusammenhang von Diskussionen über Transformationen der Kriegführung, zeitgenössische Managementkonzepte und veränderte Sozialisationstypen auftaucht. Die zu einer Monografie ausgearbeitete Untersuchung folgt weder dieser Diagnose noch verwirft sie diese, sie lotet vielmehr im Sinne einer Zeitdiagnose zweiter Ordnung aus, was es über die Gegenwart aussagt, wenn sie in so unterschiedlichen Bereichen als postheroisch charakterisiert wird, welche ihrer Aspekte hervorgehoben und welche ausgeblendet werden. Die diskursanalytische Untersuchung der disparaten Diskussionsstränge ergab, dass ‚postheroisch‘ keinesfalls als ein zeitliches ‚Danach‘ verstanden wird, sondern ein Problematisch- und Reflexivwerden heroischer Orientierungen anzeigt. Die Diagnosen einer postheroischen Gegenwart verweisen schon semantisch auf jene Heldennarrative, deren Brüchigkeit sie konstatieren und von denen sie sich absetzen. Der Topos des Postheroischen markiert so, systemtheoretisch gesprochen, ein Re-entry, das die Unterscheidung heroisch/nicht-heroisch in die Beobachtung einer Gesellschaft wiedereinführt, die diese Unterscheidung in ihrer Selbstbeobachtung verabschiedet zu haben glaubt. Umgekehrt konnte in Auseinandersetzung mit Heinz Dieter Kittsteiners Konzept der „heroischen Moderne“ gezeigt werden, dass bereits die Hochphase heroischer Orientierungen im 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von ‚postheroischen‘ Problematisierungen avant la lettre durchzogen war – angefangen von Hegels Verdikt „Im Staat kann es keine Heroen mehr geben“. Herausgefordert sehen sich Heldennarrative insbesondere durch die für die Moderne konstitutiven Prozesse der Verrechtlichung, Partizipation, Ökonomisierung, Technisierung und die Erfahrungen der Massengesellschaft; verstärkt werden die Deheroisierungsprozesse durch die Erosion traditioneller Männlichkeitsmuster. Gleichwohl sind das Integrationspotenzial und die Mobilisierungskraft heroischer Anrufungen keineswegs erschöpft. Der diagnostizierten Fragwürdigkeit und Antiquiertheit von Heldenfiguren steht vielmehr ein fortdauernder Heldenhunger gegenüber, der reichlich bedient wird. In dieser gegenstrebigen Gleichzeitigkeit disparater Heldenmodelle und mehr noch in der Kollision heroischer und postheroischer Leitbilder, so das Ergebnis der Teilstudie, zeichnen sich grundlegende Konfliktlinien der Gegenwartsgesellschaft ab. Der Platz des Helden ist nicht leer, aber es ist offen, wer ihn besetzt. Postheroisch ist eine Gesellschaft, die den Streit darüber auf Dauer stellt.

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