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Teilprojekt B7

Der Held als Störenfried. Zur Soziologie des Exzeptionellen

Teilprojektleitung: Prof. Dr. Ulrich Bröckling; Mitarbeiter: Dr. Tobias Schlechtriemen
 
Projektdauer: 2012-2016Bericht als B7


Die sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts als eigenständige Disziplin konstituierende Soziologie war a-heroisch bzw. antiheroisch ausgerichtet. Sie konzentrierte sich auf die Untersuchung sozialer Gesetz- und Regelmäßigkeiten und forschte nach den Gründen für Krisen und Defizite gesellschaftlicher Ordnung. Heroische Figuren stellen aus dieser Sicht gerade aufgrund ihrer Außerordentlichkeit eine Störung dar. Ziel des Teilprojekts war es, diese Störung produktiv werden zu lassen und (1) zu untersuchen, wo sich in den soziologischen Texten trotz der dominierenden Ausrichtung auf Ordnung heroische Figuren finden lassen, und zu untersuchen, welche Bedeutung diese im Konstitutionsprozess der Disziplin besitzen. Damit sollte (2) die theoretische und methodologische Sensibilisierung soziologischer Theorien für singuläre und exzeptionelle Phänomene gestärkt werden. Gefragt wurde folglich danach, welche Spuren des Heroischen, welche Semantiken, Metaphern oder Narrative des Exzeptionellen in den Kernbeständen soziologischen Wissens und im Selbstverständnis der Soziologie auftauchen. Dazu wurden die frühen soziologischen Ansätze (bis zum Ersten Weltkrieg) wissenschaftsgeschichtlich aufgearbeitet und im Spannungsfeld zwischen Ordnungsorientierung und Thematisierung des Außerordentlichen situiert. Darüber hinaus wurden die Befunde der disziplinhistorischen Studien zu einer soziologischen Theorie des Exzeptionellen zusammengeführt. Die sozialtheoretischen Überlegungen zum Zusammenhang von Ordnung und Außerordentlichem liefern Bausteine zu einer umfassenden Theoretisierung des Heroischen, auf die das Forschungsprogramm des SFB insgesamt abzielt.

(1) Heroische Motive im soziologischen Diskurs: Die Untersuchung der Textkorpora der frühen soziologischen Autoren hat trotz ihrer Ausrichtung auf Ordnung und Normalität vielfältige Figurationen des Heroischen zu Tage gefördert. Dabei lassen sich die Thematisierungen heroischer Figuren einerseits und die heroische Selbstinszenierung der Autoren andererseits unterscheiden. Außerdem fällt auf, dass die Heldenfiguren, die in den untersuchten Texten auftauchen, in der Regel „Geisteshelden“, „große Männer“ sind, die Ende des 18. Jahrhunderts neben den kriegerischen Heldentypus treten. So feiert A. Comte in seiner Wissens- und Wissenschaftsgeschichte die „Genies“ der Wissenschaft, die mit ihren geistigen Errungenschaften die Geschichte des Wissens geprägt und sich auf diese Weise um die Menschheit verdient gemacht hätten (vgl. Schlechtriemen 2015a). A. Quételet wiederum behandelt die „hommes supérieurs“, worunter auch er in erster Linie Geisteshelden versteht, die aufgrund intellektueller Leistungen überragen. Aber er hat ebenso die politischen Staatslenker im Blick, die als „Dolmetscher der Gesamtheit“ in der Lage seien, „sowohl den Geist als auch das Herz zu berühren“ (vgl. Schlechtriemen 2016a). H. Spencer schließlich bezieht sich als Abgrenzungsfolie auf die „Große-Männer-Theorie“ des Historismus, die aus seiner Sicht fälschlicherweise die „Heldentaten großer Männer“ als Antrieb und Ursprung historischen Wandels ansetzt. Demgegenüber leitet er das Phänomen des großen Mannes aus den komplexen geschichtlichen Entwicklungen, dem „sozialen Aggregat“, einer bestimmten Generation ab (vgl. Schlechtriemen 2016a).

Marx diagnostiziert in seinem 18. Brumaire eine „helden- und ereignisarme Zeit“. Gleichzeitig lässt sich zeigen, dass er – gerade in seinen geschichtspolitischen Schriften – dem Proletariat durchaus eine Heldenrolle zuschreibt. Die Arbeiterklasse erscheint als Subjekt der Geschichte, der es aufgegeben ist, die historische Dialektik der Klassenkämpfe aufzuheben. Wichtig an Marx’ Aufladung des Proletariats ist auch, dass es sich bei dieser Figur um einen Kollektivheros handelt.

Was in Marx’ Abgesang auf heroische Zeiten bereits anklingt, taucht sehr viel deutlicher in M. Webers Thematisierungen des Heroischen wieder auf: In der als tragisch empfundenen Entwicklung der modernen Gesellschaft werden vergangene Heldentaten und -tugenden angerufen, um die eigene Gegenwart kulturkritisch zu beleuchten. Sowohl Weber mit seinem Charisma-Konzept als auch É. Durkheim mit seinen Beschreibungen kollektiver Efferveszenz verhandeln Außerordentliches an zentraler Stelle in ihren Theorien.

Von dieser expliziten Thematisierung von Helden lässt sich die Selbstheroisierung soziologischer Autoren als Gründerfiguren unterscheiden. So inszeniert sich Comte als Begründer einer Universalwissenschaft, deren höchste Stufe die Soziologie bilden soll. Die genaue rhetorische Analyse seiner Schriften hat ergeben, dass er dazu auf das conversio-Motiv der göttlichen Berufung zurückgreift (vgl. Schlechtriemen 2015a). Außerdem setzt Comte sich als grand homme in Szene, der den Bereich des Wissens völlig neu ordnet. Spen­cers Selbstheroisierung findet sich am ehesten in seiner Autobiografie, die ihn als Person bereits qua Genre in den Mittelpunkt stellt, in der er sich aber auch exzeptionelle Eigenschaften wie Originalität oder Unparteilichkeit zuschreibt. Comte wie Spencer bemühten sich mit ihrer heroisierenden Selbstdarstellung um wissenschaftliche Reputation, auf die sie in ihrer Rolle als Gründerfiguren auch in besonderem Maße angewiesen waren.

Sowohl Quételets als auch Spencers Arbeiten zeigen, dass in der Mitte und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Kontext der sich konstituierenden Soziologie heroische Figuren nur randständig behandelt, und wenn, dann dezentrierend aus ihrer Relation zur sie umgebenden Gesellschaft erklärt werden: als statistische Ausnahmen bei Quételet oder über ihre herausgehobene historische Stellung und soziale Herkunft bei Spencer. Gleichzeitig greifen sowohl Comte wie auch Spencer auf heroisierende Selbstbeschreibungen zurück, um sich selbst als Gründerfiguren mit entsprechendem Renommee und Reputation auszustatten. Um 1900 stellt sich das, prominent bei Max Weber, anders dar: An die Stelle einer Selbstheroisierung, die das wissenschaftliche Leistungsvermögen betont, tritt eine Haltung, die sich durch einen tragischen Grundton auszeichnet, ein Heroismus des Aushaltens. Außerdem wird das Heroische nicht schlicht ‚wegsoziologisiert‘ wie noch bei Quételet und Spencer, sondern von Weber in seiner Charisma-Theorie selbst Gegenstand der soziologischen Reflexion.

(2) Theorien des Exzeptionellen: Ausgehend von den Befunden der Einzelstudien zu Comte, Quételet, Spencer und Marx wurde das Spannungsverhältnis zwischen den skizzierten heroischen Figuren und zentralen soziologischen Ordnungskonzepten genauer untersucht. Als Grenzfigur, welche die Werte und Regeln der sozialen Ordnung in besonderem Maße verkörpert und sie zugleich transgrediert, ist der Held (ebenso wie andere Verkörperungen des Außerordentlichen) ein Störenfried soziologischer Theoriebildung. Zu diesem für eine analytische Durchdringung des Heroischen grundlegenden Aspekt haben der Teilprojektleiter und ‑bearbeiter ein Themenheft der Zeitschrift Behemoth und den Sammelband Das Andere der Ordnung. Theorien des Exzeptionellen herausgegeben (Bröckling et al. 2014; 2015). In der umfangreichen programmatischen Einleitung wurden Phänomene des Außerordentlichen, die in sozialwissenschaftlichen Theorien meist nur als Ausnahme, Abweichung, Mangel, Störung oder Rauschen auftauchen und so zum Epiphänomen schrumpfen, ins Zentrum gerückt. Bei der Analyse von Heroisierungsprozessen geht es generell darum zu klären, wie sich die Wechselwirkungen zwischen heroisierter Einzelfigur und kollektiver Norm bzw. Normalität gestalten. Der analytische Blick verschiebt sich dabei von den Held(inn)en selbst auf die symbolischen Grenzziehungs- und Aufladungsprozesse, durch die sie erzeugt werden (vgl. Bröckling et al. 2016; Schlechtriemen 2016b).

Der Ertrag der Untersuchungen des Teilprojekts besteht (1) in der Entwicklung eines sozialtheoretischen Zugangs, der die Spannung zwischen Ordnungskonzepten und Figuren des Exzeptionellen in den Blick nimmt. Mit diesem Ansatz sind (2) zentrale soziologische Schriften der Gründungszeit im Hinblick darauf untersucht worden, auf welche Weise in ihnen heroische Figuren thematisiert werden. Als exzeptionelle Figuren stellen diese oftmals für die auf Ordnung ausgerichtete soziologische Erklärungsweise eine besondere Herausforderung dar. Damit wurde (3) auch ein wichtiger Strang der wissenschaftlichen Thematisierung des Heroischen analysiert. Diese Untersuchungen bildeten (4) den Ausgangspunkt für grundsätzliche Überlegungen zu Heroisierungsprozessen und (5) für eine Studie zu Theorien des Exzeptionellen, in der das Potenzial einer für das Andere der Ordnung sensibilisierten Forschungsperspektive für die Sozial- und Kulturwissenschaften ausgelotet wird.

Die vielfältige multidisziplinäre Auseinandersetzung des SFB mit heroischen Figuren hat das Teilprojekt in seiner theoretischen Fokussierung auf Phänomene des Exzeptionellen bestärkt. Die Beschäftigung mit Heroisierungsprozessen erwies sich als aufschlussreich sowohl für grundlegende sozialtheoretische Fragen nach kulturellen Grenzziehungen und ‑kontakten als auch für Dynamiken wie Polarisierung, affektive Aufladung etc. Darüber hinaus konnte die historische Situierung der im Teilprojekt untersuchten Diskurse erheblich verfeinert werden.

 

Publikationen des Teilprojekts

  • Bröckling, U. 2016: Drohnen und Helden, in: A. Aurnhammer / U. Bröckling (Hrsg.), Vom Weihegefäß zur Drohne. Kulturen des Heroischen und ihre Objekte (Helden – Heroisierungen – Heroismen 4), Würzburg; überarbeitet auch in: Wissenschaft und Frieden, 34.2: Stadt im Konflikt – Urbane Gewalträume, 2016, S. 48–51; ebenfalls in: FIfF Kommunikation, 32.4: Cybercrime, 2015, S. 52–55.
  • Bröckling, U. 2016: Maschinen handeln nicht im Heldenmodus, in: Zur Sache BW. Evangelische Kommentare zu Fragen der Zeit, Ausgabe 29.1: Helden. Brauchen wir nicht mehr. Oder?, S. 21–25.
  • Bröckling, U. 2015: Heldendämmerung? Der Drohnenkrieg und die Zukunft des militärischen Heroismus, in:  Behemoth A Journal on Civilization 8.2: Game Changer? On the Epistemology, Ontology, and Politics of Drones, S. 97–107, DOI: 10.6094/behemoth.2015.8.2.871.
  • Bröckling, U. / Schlechtriemen, T. [et al.] 2015: Das Andere der Ordnung. Theorien des Exzeptionellen, Weilerswist.
  • Bröckling, U. 2015a: Negationen des Heroischen – ein typologischer Versuch, in: helden. heroes. héros. E-Journal zu Kulturen des Heroischen 3.1: Faszinosum Antiheld, S. 9–13, DOI: 10.6094/helden.heroes.heros/2015/01/01.
  • Bröckling, U. / Schlechtriemen, T. [et al.] 2014: Behemoth. A Journal on Civilization 7.1: Das Andere der Ordnung, DOI: 10.6094/behemoth.2014.7.1.769.
  • Schlechtriemen, T. 2016a: Nur das Publikum zählt. Wie Adolphe Quételet und Herbert Spencer ‚große Männer‘ erklären, in: R. G. Asch / M. Butter (Hrsg.), Bewunderer, Verehrer, Zuschauer. Die Helden und ihr Publikum (Helden – Heroisierungen – Heroismen 2), Würzburg, S. 179–198.
  • Schlechtriemen, T. 2016b: The Hero and a Thousand Actors. On the Constitution of Heroic Agency, in: helden. heroes. héros. E-Journal zu Kulturen des Heroischen 4.1: Heroes and Things – Heroisches Handeln und Dinglichkeit, S. 17–32, DOI: 10.6094/helden.heroes.heros./2016/01/03.
  • Schlechtriemen, T. 2015a: Auguste Comte als ‚grosser Mann‘. Zur Exzeptionalität des soziologischen Beobachters, in: M. Gamper / I. Kleeberg (Hrsg.), Größe. Zur Medien- und Konzeptgeschichte von personaler Macht im langen 19. Jahrhundert, Zürich, S. 153–172.
  • Schlechtriemen, T. 2015b: Akteursgewimmel. Hybride, Netzwerke und Existenzweisen bei Bruno Latour, in: U. Bröckling [et al.] (Hrsg.), Das Andere der Ordnung. Theorien des Exzeptionellen, Weilerswist, S. 149–167.

 

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