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Teilprojekt B5

Nationale Krise und politisches Heldentum im langen 19. Jahrhundert: Der Bonapartismus im europäischen Vergleich

Teilprojektleitung: Prof. Dr. Jörn Leonhard; Mitarbeiter: Benjamin Marquart
 
Projektdauer: 2012-2016 Bericht als PDF


Der Ausgangspunkt des Teilprojekts war die Frage, wie, wann und warum sich das Bild eines neuartigen politischen Helden im Blick auf Bonaparte, Napoleon I. und Napoleon III. zwischen etwa 1800 und den 1870er Jahren entwickelte und europäisch differenzierte, und welche geschichtspolitischen Instrumentalisierungen des Napoleon-Heroismus im Verlauf dieser Prozesse in verschiedenen europäischen Gesellschaften wirksam wurden. Die Heroisierungen Napoleons zu einer aus der Revolution hervorgegangenen charismatischen und exzeptionellen Retter- und Herrscherfigur überlebten sowohl das Ende seiner Herrschaft 1815, als auch seinen physischen Tod 1821, und entwickelten sich im Verlauf des 19. Jhs. in Europa zu einem höchst umstrittenen Modell eines postrevolutionären politischen Heroismus. Die Ausgangsthese des Teilprojekts war in diesem Zusammenhang, dass sich im zeitgenössischen Sprechen über den Helden, über den Mangel oder die Gefahren heroischer Eigenschaften, auch wesentliche Debatten über das Wesen der Politik, über Legitimation und Delegitimation nach den Erfahrungen von Revolution, Krieg und nationalen Krisenmomenten widerspiegelten.

Hat die klassische Bonapartismusforschung den Bonapartismus v.a. unter zwei Perspektiven untersucht – zum einen begriffsrealistisch als konkretes politisches Programm,1 zum anderen als an die Person gebundener Mythos –,2 so hat ihn das Teilprojekt nicht als bloße Strategie der Machtusurpation, sondern als einen Kommunikationszusammenhang des politischen Heroismus in den verschiedenen postrevolutionären Kontexten Europas aufgefasst und untersucht. Konkret hat das Teilprojekt zunächst nach den Selbstheroisierungen Bonapartes/Napoleons als Voraussetzung des bonapartistischen Heldenmodells gefragt, um anschließend in komparativer Perspektive europäische Aneignungen, Wahrnehmungen und Auseinandersetzungen mit diesem Modell in den Blick zu nehmen. Methodisch verbindet das Projekt Ansätze der politischen Diskursgeschichte im Sinne der Cambridge School3 mit einer systematisch komparativen Komponente.

Ursprünglich war das Teilprojekt als Untersuchung des Zeitraums zwischen etwa 1800 und den 1870er Jahren angelegt. Dieser Untersuchungszeitraum wurde konkret auf die Zeit zwischen 1821 und 1869 zugeschnitten. Die Eckdaten dieses neuen Zeitraums bilden Napoleons Tod, sowie die Hundertjahrfeier seines Geburtstages ein Jahr vor dem Zusammenbruch des zweiten Kaiserreichs. Das Projekt hat sich damit auf die Erforschung des postumen Napoleonismus konzentriert, was zum einen den Untersuchungsgegenstand strafft und konkretisiert, und was zum anderen dadurch gerechtfertigt ist, dass der Tod Bonapartes einen tiefen Einschnitt für den Napoleonismus bedeutete: Spätestens jetzt ging den Heroisierungen Napoleons ihre Funktion als klassische Herrschaftsrepräsentation verloren. Sie wurden jetzt vielmehr zu einem Instrument geschichtspolitischer Sinnstiftung. Innerhalb dieses Zeitraums konnten anhand der Quellenrecherche und -analyse insgesamt Verdichtungsmomente der europäischen napoleonistischen Diskurse wie die Überführung der Leiche Napoleons nach Paris 1840 oder die Beisetzung des Herzogs von Wellington 1852 in London identifiziert werden, die der Analyse als historische Anwendungskontexte bestimmte Zeitphasen erschließen. Diese Momente strukturieren auch das Teilprojekt und die aus ihm hervorgehende Monographie.

Der angestrebte Ländervergleich zwischen Frankreich, Großbritannien und Deutschland gestaltet sich asymmetrisch; dem französischen Fall wird aufgrund seiner spezifischen Eigenlogik mehr Raum gegeben. Dies ist zum einen der Frage der Praktikabilität geschuldet, rechtfertigt sich zum anderen aber v.a. durch die Quellenlage: In Frankreich wurde ungleich mehr über Napoleon gesprochen und publiziert als in den beiden Vergleichsländern, was neben der Tatsache, dass der Napoleonismus ein originär französisches Phänomen war, ein Indikator für den höheren politischen und gesellschaftlichen Stellenwert der Figur in Frankreich ist. Als grundlegendes Auswahlkriterium für die Quellengrundlage haben sich die öffentlichen, massenmedialisierten europäischen Buchmärkte herausgebildet, also die inhaltliche Konzentration auf hauptsächlich publizistisch geführte, öffentliche Debatten und Diskurse. Eine Auseinandersetzung mit potenziellen Gegenhelden – Nelson, Wellington, Luise von Preußen, Blücher – ist nur insoweit integriert worden, als diese in den eigentlichen napoleonistischen Diskursen verhandelt werden.

Das Teilprojekt hat sich von dem ursprünglich im Antrag verwendeten Begriff des Bonapartismus gelöst und stattdessen mit dem Begriff ‚Napoleonismus‘ operiert. Der Bonapartismus hat sich v.a. in der zeitgenössischen Quellensprache als zu klar definierter Begriff erwiesen, der spätestens seit den 1830er Jahren die Zugehörigkeit zu einer – wenn auch vage ausgedeuteten – politischen Richtung bezeichnete, die sich über die Anhängerschaft und Verehrung der Person Napoleon Bonapartes konstituierte. Ähnlich belastet ist dieser Begriff auch in der Forschung. Der ‚Napoleonismus‘ dagegen hat sich sowohl in Quellen und Forschung als weniger festgelegter Begriff erwiesen. Er eignete sich damit für das Projekt, um den Untersuchungsgegenstand – das Sprechen über den Helden Napoleon im 19. Jh. – definitorisch zu fassen.

Auf theoretischer Ebene hat das Teilprojekt sich das Ziel der Überwindung der bisherigen Engführung des Bonapartismus auf ein politisches Programm zur Herrschaftserlangung in Politikwissenschaft und klassischer Ideengeschichte durch eine kulturwissenschaftliche Perspektive in komparativer Absicht vorgenommen. Dies ist durch diese definitorische Fassung des Untersuchungsgegenstandes im Begriff des Napoleonismus geschehen. Das Teilprojekt hat den ursprünglichen Ansatz eines Verständnisses des Bonapartismus als Kommunikationszusammenhang erweitert, indem es den Napoleonismus als einen Modus des Sprechens begreift. Dabei wird ein sehr weiter Sprachbegriff angelegt, um ein breites, medien- und gattungsübergreifendes Quellenkorpus erfassen zu können. Diese Definition löst damit die untersuchten Sprechakte von affirmativer oder kritischer Wertigkeit, so dass dadurch eine umfassende Untersuchung sowohl von Prozessen der Heroisierung, als auch der Deheroisierung möglich war, also von Prozessen der Aushandlung der Figur Napoleon in allen Kategorien des Heroischen. Zudem lassen sich unter dem Verständnis als Modus des Sprechens Ansätze von Pococks Diskursgeschichte mit denen der historischen Semantik gewinnbringend bündeln.

Dieser Bruch mit der klassischen dualistischen Sichtweise auf den Bonapartismus hat sich in der jüngeren Napoleon-Forschung tendenziell abgezeichnet,4 jedoch fehlen diesen Arbeiten meist entweder der konsequente kulturwissenschaftliche Ansatz oder die komparative Perspektive. Neben dem Bruch mit der klassischen Bonapartismus-Forschung bildet das Teilprojekt im Verhältnis mit der neueren Napoleon-Forschung damit den logischen nächsten Schritt einer transnationalen ‚relecture‘ des Napoleonismus.

Als konkrete Ziele hatte sich das Teilprojekt die systematische Analyse von Genese und Semantik, Transformationen und Konjunkturen der Heroisierungen Napoleons und der bonapartistischen Heroismen in europäischer Perspektive als Referenzrahmen für politische Herrschaftsbegründung und Kommunikation des Politischen zwischen 1800 und 1870, sowie die systematische Untersuchung der auf Bonaparte/Napoleon bezogenen Heroismen mit der Perspektive auf grundlegende Erkenntnisse über Reichweite, Integrations- und Symbolkraft politischer Heroismen im 19. Jh., speziell der Heroismen Napoleons und seiner zeitgenössischen Gegenhelden in England und Deutschland, vorgenommen. Beides ist unter aus der Arbeit im Projekt hervorgegangenen Justierungen und Einschränkungen geschehen und findet seinen Niederschlag in der vom Teilprojektbearbeiter zu verfassenden geschichtswissenschaftlichen Monographie. Konkret kann das Teilprojekt sehr gut zeigen, inwiefern Helden in postrevolutionären europäischen Gesellschaften im 19. Jh. v. a. zu Instrumenten nationaler politischer und historischer Deutungskämpfe und umstrittener Sinnstiftung werden. Dies gilt besonders für die heroische Figur Napoleon, die im untersuchten Zeitraum in Frankreich zu dem Aushandlungsort geschichtspolitischer Traditionskonzepte zwischen den wechselnden Regimen und politischen Oppositionen wurde, aber ebenso in anderen nationalen Kontexten für Gegenhelden wie etwa Wellington. Um ihn wurden in Großbritannien Debatten über die Frage nationaler Identität geführt.5 Zudem fanden solche politischen und historischen Aushandlungsprozesse nicht nur in nationalen, sondern ebenso in transnationalen Kontexten statt, so dass das Teilprojekt zudem Erkenntnisse über Heroisierungsprozesse im Wechselspiel von Nationalem und Transnationalem gewinnen konnte. Die Existenz einer prominenten Gruppe als transnational wahrgenommener Napoleonisten bedeutete, dass deren heroisierende (oder deheroisierende) Sprechakte oftmals in einem spezifischen, nationalen Anwendungskontext entstanden, in einen transnationalen übergingen und daraus wiederum in andere nationale Kontexte eingingen, in denen sich ihr Deutungsangebot stark wandelte oder neu konstituierte. Die Frage nach der medialen Dimension sich konstituierender und fortwährend entwickelnder politischer und sozialer Massenmärkte spielt dabei eine zentrale Rolle.

Aus der Teilnahme an der Verbundarbeitsgruppe 3 „Deheroisierung“ ist eine gemeinschaftliche Publikation hervorgegangen (Marquart et al. 2015). Mit den Teilprojekten A5 und B8 fanden konkrete Kooperationen in Form gemeinsam organisierter Workshops statt („Die Biografie des Helden: Perspektiven auf Narration, Konstruktion und Rezeption“; „Der Glanz des Helden“). Im Rahmen der SFB-Tagung „Sakralität und Heldentum. Zum Relationsgeflecht von Heroischem und Religiösem“ (2014) war das Teilprojekt durch einen Vortrag des Teilprojektbearbeiters vertreten (Marquart 2016).

Im Verlauf des Jahres 2016 war der Teilprojektbearbeiter gemeinsam mit PD. Dr. Isabelle Deflers (Universität Freiburg) und Prof. Dr. Erich Pelzer (Universität Mannheim) an der Organisation der Tagung „Napoleon Bonaparte als Held, Dämon und Visionär: Deutungsprojektionen im 19. Jahrhundert“ beteiligt. Diese Tagung wurde in Kooperation mit dem Sonderforschungsbereich vom Frankreich-Zentrum der Universität Freiburg ausgestattet und fand am 28. Oktober 2016 statt.
 

1 Bluche, F. 1980: Le Bonapartisme: aux origines de la droite autoritaire (1800–1850), Paris; Ménager, B. 1988: Les Napoléon du peuple, Paris.
2 Tulard, J. 1977: Napoléon ou le mythe du sauveur, Paris; Tulard, J. 1971: Le mythe de Napoléon, Paris.
3 Pocock, J. G. A. 1987: The ancient constitution and the feudal law: a study of English historical thought in the 17. century, Cambridge.
4 Beßlich, B. 2007: Der deutsche Napoleon-Mythos. Literatur und Erinnerung 1800 bis 1945, Darmstadt; Fureix, E. 2009: Napoléon, „la plus grande mort du siècle“, in: Ders.(Hrsg.), La France des larmes. Deuils politiques à l’âge romantique (1814–1840), Paris, S. 403–434; Jourdan, A. 1998: Napoléon. Héros, imperator, mécène, Paris; Petiteau, N. 1999: Napoléon, de la mythologie à l’histoire, Paris; Semmel, S. 2004: Napoleon and the British, New Haven.
5 Pears, I. 1992: The Gentleman and the Hero. Wellington and Napoleon in the Nineteenth Century, in: R. S. Porter (Hrsg.), Myths of the English, Cambridge, S. 216–236.

 

Publikationen des Teilprojekts

  • Leonhard, J. 2014: Der Hü-und-hott-Kanzler. Bonapartist oder Charismatiker? Eine Analyse der Bismarckschen Herrschaftstechnik, in: ZEIT Geschichte Magazin 4/14: Bismarck: Reaktionär, Revolutionär, Opportunist der Macht, S. 42–46.
  • Leonhard, J. 2014: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, 5. Aufl. München, S. 160–205, S. 415–424, S. 434–470, S. 563–579, S. 595–608, S. 615–634, S. 979–997.
  • Marquart, B. 2017: Napoleons Golgota – Sakralisierende Heldenverehrung zwischen Restauration und Julimonarchie, in: F. Heinzer / J. Leonhard / R. von den Hoff (Hrsg.), Sakralität und Heldentum. Zum Relationsgeflecht von Heroischem und Religiösem (Helden – Heroisierungen – Heroismen 6), Würzburg, S. 215–228.
  • Marquart, B. [et al.] 2015: Phänomene der Deheroisierung in Vormoderne und Moderne, in: helden. heroes. héros. E-Journal zu Kulturen des Heroischen 3.1: Faszinosum Antiheld, S. 135–149, DOI: 10.6094/helden.heroes.heros/2015/01/13.
  • Marquart, B. 2013: Held und Nation. Französische Napoleon-Biografien zwischen Restauration und zweitem Kaiserreich, in: helden. heroes. héros. E-Journal zu Kulturen des Heroischen 1.1: Herausforderung Helden, S. 15–26, DOI: 10.6094/helden.heroes.heros./2013/01/04.

 

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