Zurück zur Startseite

Teilprojekt A7

Die Stimme des Helden. Vokale Präsentation des Heroischen in der Oper der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Teilprojektleitung: Prof. Dr. Thomas Seedorf; Mitarbeiterin: Carolin Hauck (geb. Bahr)
 
Projektdauer: 2012-2016 Bericht als PDF


Das Ziel des Teilprojekts bestand in der Entwicklung eines Erklärungsmodells für das Phänomen des Tenorgesangs als zentraler Artikulationsform des (männlichen) Heroischen in der Oper des frühen und mittleren 19. Jahrhunderts. Unter Einbeziehung der im SFB 948 gewonnenen Erkenntnisse sollte durch die Rückführung dieses Phänomens auf zeitgenössische Heldendiskurse eine Lücke in der Musikforschung geschlossen werden, die Musik und Heldentum bislang überwiegend anhand von Einzelphänomenen betrachtet hatte. Als anschlussfähig erwiesen sich zum einen Untersuchungen über Richard Wagners Verhältnis zu den geschichtsphilosophischen Heldenkonzepten seiner Zeit1 und deren Anwendung auf die Heldenfiguren seiner Opern2. Zum anderen lieferten Auseinandersetzungen mit der Verbindung von Heroismus und Geschlechterdiskursen, mit den geschlechtsspezifischen Konnotationen von Heldenfiguren und mit Aspekten von Performanz, Stimme und Körperlichkeit wichtige Forschungsgrundlagen.3 Durch diese konnte im Teilprojekt in Verbindung mit umfassenden Quellenstudien die Entwicklung des Tenorhelden und dessen als dezidiert männlich wahrgenommene Stimme als eine Erscheinungsform des sich um 1800 herausbildenden Geschlechter-Dualismus stark gemacht werden. Ein Großteil der wissenschaftlichen Beiträge betont darüber hinaus dramaturgische Aspekte heroischer Figuren in Oper und Musikdrama, wobei namentlich die Doppeldeutigkeit des Heldenbegriffes als Bezeichnung sowohl für ein Rollenfach im Operngesang als auch für die Heldenfigur dazu anregt, nach dem Konnex zwischen (vokal-)musikalischer und heroischer Artikulation zu fragen.4 Dennoch stellt die systematische Auseinandersetzung mit der gerade aus musikwissenschaftlicher Perspektive besonders relevanten Frage nach spezifisch musikalischen und musikästhetischen Konzepten des Heldischen in der Oper ein Forschungsdesiderat dar.

An dieser Stelle konnte das Teilprojekt über die Stimme des Helden in der Oper der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gezielt ansetzen, indem die musikalischen Aspekte der stimmlichen Repräsentation von Opernhelden in ihr sozial-, gattungs- und ideengeschichtliches Umfeld systematisch eingebettet wurden. Die Untersuchung zielte darauf ab, die engen Wechselbeziehungen herauszuarbeiten, die zwischen den gesellschaftlichen Entwicklungen im mitteleuropäischen Raum und den in der Oper sich wandelnden gesangstechnischen, kompositorischen, textlichen und dramaturgischen Formen und Strukturen bestanden. Hier war zu beobachten, dass sich im Raum des Opern- und Theaterhauses im Zuge der Aufweichung der Grenzen zwischen höfischen und bürgerlichen Kultursphären eine neue, sozial durchmischte Öffentlichkeit formte, deren Interesse an Ereignissen der neueren Geschichte darauf abzielte, über das Medium der Oper Deutungsmodelle für die rasant vorwärtsdrängenden politischen, sozialen und kulturellen Entwicklungen der Gegenwart aufzunehmen. Daran knüpfte sich die Ausprägung eines zumeist durch den Tenorsänger verkörperten Heldentypus, der durch innere Haltung und äußere Handlung eine Vielzahl an Vorbildfunktionen für das neue Publikum bereithielt und Wertvorstellungen (re)präsentierte. Dabei spiegelte sich das synchrone Nebeneinander von sozial divergierenden Rezipientengruppen im Nebeneinander verschiedenartiger Heldenfiguren auf der Bühne wider, indem diese ein Personenspektrum vom Bürger bis zum Herrscher und ein Handlungsspektrum von der transgressiven, außeralltäglichen Heldentat bis zum Scheitern abdeckten, und somit eine Vielfalt an Identifikationspotenzial bereitstellten (näher besprochen bei Bahr 2015). Die Entwicklung des Tenorhelden bzw. Heldentenors konnte somit als besonders signifikante Erscheinungsform eines engen Wechselverhältnisses zwischen Kunst und Gesellschaft beschrieben werden.

Um das Phänomen der Stimme des Helden vor diesem Hintergrund näher zu beleuchten, diente eine exemplarische Auswahl an Sängern und Werken dazu, den engen Zusammenhang zwischen Werkideen und Aufführungskonzepten analytisch zu erfassen: So bildeten die kulturellen und gattungsgeschichtlichen Entstehungszusammenhänge und die konkrete Genese der einzelnen Opern im Zusammenhang mit den für spezifische Sänger angelegten Profilen der Tenorrollen ebenso eine Untersuchungsgrundlage wie Fragen der Produktion, Aufführung und Rezeption der Werke. Dies erforderte in methodischer Hinsicht eine Integration von musikwissenschaftlichen Ansätzen (musikalische Analyse, Quellenphilologie sowie stimmenphysiologische Untersuchungen) und allgemeinen kulturwissenschaftlichen Ansätzen der Helden- und Publikumsforschung, wobei ein methodischer Mehrwert der Studie in der Zusammenführung durchaus disparater Forschungsbereiche bestand. Wurden Sänger, Stimme und Gesang bislang entweder unter biographischen5 oder stimmphysiologischen6 oder gesangshistorischen7 oder genderbezogenen Fragestellungen untersucht, konnten fachlich getrennte Denkansätze im Rahmen der Untersuchung integriert werden. Die systematische Erforschung des Tenorgesangs unter dem Aspekt des Vergleichs von Frankreich, Italien und Deutschland ermöglichte es ferner, bislang wenig beachtete Wechselbeziehungen zwischen Komponisten, Werken, Sängern, Gesangs- und Aufführungspraktiken aufzuzeigen und die Tendenz der gegenwärtigen Musikforschung zu bestärken, über Gattungsgrenzen hinauszudenken und kulturelle Transferprozesse zu betonen.

Die Auswertung des im Erstantrag benannten und im Laufe der Recherchen neu erschlossenen Quellenmaterials lieferte umfassende Erkenntnisse: So wurden auf dem Gebiet der Bewertung und Rezeption von Opern und Opernsängern Phänomene nationaler bzw. kultureller Transfer-, Identitätsbildungs- und Abgrenzungsmechanismen erstmals sichtbar. Im Diskurs über das Heroische in der Oper markierte das Nationale (im Sinne des kulturell Einheitlichen) den jeweiligen Erwartungs- und Erfahrungshorizont, so dass über denselben Sänger und über dieselben Opern in Abhängigkeit nationaler Bewertungsmuster höchst unterschiedliche Aussagen getroffen wurden. Die nationale Vereinnahmung Gilbert Louis Duprez’ als Schöpfer einer neuen Gesangstechnik und Erfinder des „ut de poitrine“8 etwa konnte durch die vergleichende Rezeptionsanalyse in ihrem Konstruktionscharakter offengelegt werden: Voraussetzung für die Heroisierung von Person und Ereignis war die Ausklammerung interkultureller Wechselbeziehungen zwischen den Fortschritten im Tenorgesang in Italien und deren Anwendung auf das französische Repertoire durch Duprez.


1 Janz, T. 2011: Wagner, Siegfried und die (post-)heroische Moderne, in: Ders. (Hrsg.), Wagners Siegfried und die (post-)heroische Moderne. Beiträge des Hamburger Symposions, 22.–25. Oktober 2009 (Wagner in der Diskussion 5), Würzburg, S. 9–39.
2 Unseld, M. 2012: „‚heroisch‘ im weitesten Sinne“. Wagners Konzeption des Helden, in: Hindinger, B. (Hrsg.), Der musikalisch modellierte Mann. Interkulturelle und interdisziplinäre Männlichkeitsstudien zur Oper und Lite-ratur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Wien, S. 146–163.
3 Dittrich, M.-A. 2010: Art. „Männlichkeitsbilder“, 3. Held/Heroismus, in: Kreutziger-Herr, A. / Unseld, M. (Hrsg.), Lexikon Musik und Gender, Kassel [u.a.], S. 353–354; Maier-Eroms, E. 2007: „Heldentum“ und „Weiblichkeit“ im Mittelalter und in der Neuzeit. Am Beispiel von Wolframs Parzivâl, Gottfrieds Tristan und Richard Wagners Musikdramen, Regensburg (Univ. Diss.); Rutherford, S. 2005: „Il grido dell’anima“, or „un modo di sentire“. Verdi, masculinity and the Risorgimento, in: Studi verdiani 19, S. 107–121; Heller, W. 1998: Reforming Achilles: gender, „opera seria“ and the rhetoric of the enlightened hero, in: Early Music 26.4, S. 562–581.
4 Mösch, St. 2011: Klangkunst vom Kothurn. Zum Vokalprofil des Heldischen in Wagners „Siegfried“, in: Janz, T. (Hrsg.), Wagners Siegfried und die (post-)heroische Moderne. Beiträge des Hamburger Symposions, 22.–25. Oktober 2009 (Wagner in der Diskussion 5), Würzburg, S. 183–215; Watson, J. 2005: Wagner’s Heldente-nors: Uncovering the Myths, Austin (Univ. Diss.).
5 Appolonia, G. 1992: Le voci di Rossini, Turin; Luther, E. 1998: So singe, Held! Biographie eines Stimmfaches, Teil 1: Wagnertenöre der Wagnerzeit (1842–1883), Trossingen/Berlin.
6 Smith Jr., M. L. 2011: Adolphe Nourrit, Gilbert Duprez, and the high C: The influences of operatic plots, culture, language, theater design, and growth of orchestral forces on the development of the operatic tenor vocal pro-duction, Las Vegas (Univ. Diss.); Watson, J. 2005: Wagner’s Heldentenors: Uncovering the Myths, Austin (Univ. Diss.).
7 Potter, J. 2009: Tenor. History of a Voice, New Haven/London; Rosselli, J. 1992: Singers of Italian Opera. His-tory of a Profession, Cambridge [u.a.]; Verdino-Süllwold, C. M. 1989: We need a Hero! Heldentenors from Wagner's Time to the Present. A Critical History, West New York.
8 In der Gesangsforschung hinlänglich korrigiert durch Beghelli und Bloch (Beghelli, M. 1996: Il „Do di petto“. Dissacrazione di un mito, in: Il Saggiatore musicale 3, S. 105–149; Bloch, G. W. 2007: The pathological voice of Gilbert-Louis Duprez, in: Cambridge Opera Journal 19, S. 11–31).

 

Publikationen des Teilprojekts

  • Bahr, C. [vorauss. 2018]: Masking the Masked Ball: Auber’s ,Gustav III‘ as ,Die Ballnacht‘ at the Weimar Court Theatre, 1836, in: J. Hesselager (Hrsg.), Grand Opera Outside Paris. Opera on the Move in Nineteenth-Century Europe (Ashgate Interdisciplinary Studies in Opera), London (in Vorbereitung).
  • Bahr, C. 2017: Grand Opéra an deutschen Hoftheatern (1830–1848). Studien zu Akteuren, Praktiken und Aufführungsgestalten (Musik – Kultur – Geschichte 5), Würzburg.
  • Bahr, C. 2016: „die ganze gesellschaftliche Welt in einer Nuß“. Opernhelden und ihr Publikum am Beispiel des deutschen Hoftheaters im mittleren 19. Jahrhundert, in: R. G. Asch / M. Butter (Hrsg.), Bewunderer, Verehrer, Zuschauer. Die Helden und ihr Publikum (Helden – Heroisierungen – Heroismen 2), Würzburg.
  • Bahr, C. / Seedorf, T. 2014: Wagners Konzeption des „Lohengrin“ und das Dresdner Sängerensemble, in: wagnerspectrum 10.1, S. 145–161.
  • Seedorf, T. 2017: Die neue Stimme des fremden Helden: Gaetano Fraschini als Zamoro in Giuseppe Verdis „Alzira“, in: A. Aurnhammer / B. Korte (Hrsg.), Fremde Helden auf europäischen Bühnen 1600–1900 (Helden – Heroisierungen – Heroismen 5), Würzburg, S. 217–231.
  • Seedorf, T. 2016: Der doppelte Radamisto. Zur Besetzungspraxis von Heldenpartien bei Händel, in: Händel-Jahrbuch 62, Kassel, S. 165–176.
  • Seedorf, T. 2016: Musik – Theater – Helden – Kult: Das Festspielhaus in Bayreuth, in: A. Aurnhammer / U. Bröckling (Hrsg.), Vom Weihegefäß zur Drohne. Kulturen des Heroischen und ihre Objekte (Helden – Heroisierungen – Heroismen 4), Würzburg.
  • Seedorf, T. 2015: Wagners „Gesangsheld“. Ludwig Schnorr von Carolsfeld als Tristan, in: M. Unseld / C. Fornoff (Hrsg.), Wagner – Gender – Mythen (Wagner in der Diskussion 13), Würzburg, S. 213–229.
  • Seedorf, T. 2015: Heldensoprane. Die Stimmen der „eroi“ in der italienischen Oper von Monteverdi bis Bellini (Figurationen des Heroischen 1), Göttingen.
  • Seedorf, T. 2014: Heldentenor und Tenore di forza, in: A. Jacobshagen (Hrsg.), Verdi und Wagner. Kulturen der Oper, Köln [u.a.], S. 295–305.
  • Seedorf, T. 2012: Ein neuer Held! – Ein neuer Held? – Zur aktuellen Diskussion über ein Stimmfach, in: wagnerspectrum 8.1, S. 55–67.
  • Seedorf, T. 2012: Vom Tenorhelden zum Heldentenor – Wagners Ideal eines neuen Sängertypus, in: D. Altenburg (Hrsg.), Bericht über den XIII. Internationalen Kongress der Gesellschaft für Musikforschung vom 16. bis 21. September 2004 am Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena, Bd. 1, Kassel [u.a.], S. 463–472.

 

Anmeldung
Der interne Bereich finden Sie nun auf der Teamplattform des SFB 948. Hinweise zum Login und zur Bedienung der Teamplattform finden Sie in diesem Dokument.