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Teilprojekt A3

Hagiographik als Heroisierung. Transformationen und Synkretismen im französischen, englischen und deutschen Frühmittelalter

Teilprojektleitung: Prof. Dr. Felix Heinzer, Prof. Dr. Birgit Studt; Mitarbeiter(in): PD Dr. Lenka Jiroušková, Eva Ferro, Stephan Bruhn (Januar 2013 – März 2013), Jérémy Winandy (seit Mitte April 2013)
 
Projektdauer: 2012-2016 Bericht als PDF


Das Teilprojekt untersuchte Verschränkungen der Semantik und Darstellungsformen von Heiligen und Helden anhand hagiographischer Texte des Früh- und Hochmittelalters. Im Unterschied zu bisherigen Forschungsansätzen ging das von den Fächern Mittellatein und Mittelalterliche Geschichte getragene Vorhaben nicht von einem Gegensatz von paganer und christlicher oder auch laikaler und klerikaler Sphäre aus. Die beiden Konzepte ,Held‘ und ‚Heiliger‘ werden insbesondere im 10. und 11. Jahrhundert auch nicht als gegensätzlich, sondern als untrennbar miteinander verwoben verstanden. Dies hatte eine nachhaltige Wirkung auf die europäische Kultur.
Das Phänomen der Heiligenverehrung im christlichen Mittelalter wurde aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln untersucht: Im ersten Arbeitsvorhaben wurde mithilfe einer historisch-literaturwissenschaftlichen Herangehensweise die Produktion von Heiligenviten aus reformorientiertem monastischen Umfeld analysiert. Das zweite, mittellateinische Vorhaben lenkte das Interesse auf performative Aspekte der Verehrung anhand liturgischen Quellenmaterials.

Die bisherige Forschung zum Verhältnis von Helden und Heiligen hat speziell der lateinischen Biographik des 10. und 11. Jhs. wenig Bedeutung zugemessen und keine Bezüge zum Heldendiskurs hergestellt. Das historische Arbeitsvorhaben befasste sich gezielt mit dieser Lücke und untersuchte die lateinische Biographik und Hagiographik zwischen 800 und 1150. Neben Herrschern wurden in erster Linie die Viten von Äbten aus den reformorientierten Zentren Fleury, Cluny und St. Benigne in Dijon untersucht, um anhand der biographisch-heroisierenden Lebensbeschreibungen neue Erkenntnisse über die Funktion von Heiligen und Viten für die christliche Gesellschaft im Zeitraum monastischer Reformen und gesellschaftlicher Umbrüche zu gewinnen.

Die hagiographische Forschung wurde in Bezug auf die Funktion von Hagiographie korrigiert: Hagiographie diente im Untersuchungszeitraum nicht in erster Linie der Kultpropaganda, da die dafür notwendigen Heiligkeitsnachweise, die posthumen Wunder, fehlen. Auch die oftmals singuläre Überlieferung als Autorenexemplar widerspricht dem Interesse einer großen, nach außen gerichteten Kultpropaganda. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Texte die Bedeutung der Verehrergemeinschaft und die Richtigkeit des Handelns des Verehrten als Repräsentanten dieser Gemeinschaft belegen sollten. Viten waren somit in die Verehrergemeinschaft hinein gerichtet und dienten ihrer Selbstvergewisserung.

Das mittellateinische Vorhaben hat vor allem das für den liturgischen Gebrauch funktionalisierte hagiographische Material untersucht und so einen von der mediävistischen Forschung bisher kaum beachteten Bereich der lateinischen Kultur des Mittelalters ins Zentrum gerückt. Der oberitalienische Kult von Zeno wurde aus zwei Gründen als Gegenstand der Untersuchung ausgewählt. Zum einen konnte die Funktion des Kultes in seinem lokalen Entstehungskontext (Verona) als Stadtpatronat und die Charakterisierung des Heiligen als defensor civitatis näher beleuchtet werden. Zum zweiten konnten angesichts der überregionalen Verbreitung des Kultes Prozesse von Kulttransfer und Umfunktionalisierung des Heiligenkultes analysiert werden. Die Untersuchung hat gezeigt, dass weniger die Darstellung des Heiligen als Kämpfer, sondern lediglich seine Rolle als Beschützer weiter bestehen bleibt, dass diese aber je nach Kultkontext anders ausfällt: als Schutz gegen Naturgewalt oder Schutz einer besonderen sozialen Gruppe.

Die aufgespürten liturgischen und hagiographischen Quellen des Zenokultes wurden erstmals angemessen erschlossen und ediert, so dass ein zuverlässiges Textcorpus entstand. Das liturgische Material wurde nun ausgehend von den Impulsen des SFB auch aus einer historisch-rezeptionsästhetischen Perspektive untersucht. So wurden die Texte als konstitutiver Teil einer typisch mittelalterlichen, im Rahmen der sakralen Performanz stattfindenden Verehrungspraxis verstanden und entsprechend erschlossen: der Fokus lag auf den Akteuren (die Figur, seine Verehrergemeinschaft(en) sowie die „Heldenmacher“), Motivationen und Medialisierungen des Heroisierungsprozesses. Die in den jeweiligen Kontexten unterschiedlich ausfallenden Heroisierungen, durch welche die verehrte Figur zum Fokus einer jeweiligen Gemeinschaft (oder eines jeweiligen Publikums) wurde, konnten so ausdrücklich herausgearbeitet werden.

Das spezifische Engagement des mittellateinischen Teilprojektleiters Felix Heinzer galt der Frage nach sprachlichen und semantischen Rezeptions- und Transformationsphänomenen an der Schwelle zwischen Spätantike und Mittelalter (erste Ergebnisse in Heinzer 2015). Dabei konnten Aspekte herausgearbeitet werden, die weit über das Teilprojekt hinausweisen. Dies gilt insbesondere für Aspekte des Unterlaufens machtbetonter Vorstellungen des Heldischen im Blick auf den frühchristlichen Märtyrerdiskurs, eine Transformation des antiken Heroismuskonzepts, die auch einen Weg zu sehr viel späteren Entwicklungen eröffnet: etwa hin zu der Nobilitierung von Gewaltverzicht und Selbstopfer, aber auch zu Formen moralischer Habitualisierung bis hin zur Rede vom „Alltagshelden“ und seiner beruflichen oder standestypischen Pflichterfüllung, ja sogar zu einer Ironisierung des Heldischen im Sinn „uneigentlicher“ Inanspruchnahme heroischen Vokabulars und heroischer Bilder.

Mit der Verbreitung und Etablierung des Christentums als staatliche Religion in der Spätantike ist eine fundamentale Brechung im Bereich der heroischen Vorstellungen und der damit verbundenen heroischen Sprache zu beobachten. Das Aufkommen der Idee des siegreichen Opfers (Christus und die frühen christlichen Märtyrer als victimae triumphales) bewirkt eine Umkehrung der heroischen Ideale, die nun auch für Ironisierungen sowie Feminisierungen geöffnet sind. Dank der Erarbeitung dieses spätantiken Wandels der heroischen Semantik durch Felix Heinzer (Heinzer 2015) konnte eine neue Perspektive auf das spezifisch mittelalterliche Verständnis und die Ausdrucksformen von Heroisierung fruchtbar gemacht werden. Die hier besonders im Fokus stehende Figur des Märtyrers und die im gesamten Teilprojekt untersuchten Figuren heroischer Heiliger/heiliger Helden haben sich als Thema von transversaler Bedeutung für den SFB erwiesen. Diese Figuren konnten sogar in aktuellen Diskursen im außereuropäischen Raum, als Paradigma einer spezifischen Form heroischer Performanz erkannt werden, die eine substanzielle Brechung und Transformation im Blick auf Status und Rolle der Gewalt impliziert und somit epochen- und kulturübergreifende Relevanz beanspruchen kann.

Als Ergebnis kann festgehalten werden, dass der mittelalterliche Heiligkeitsdiskurs auf der Ebene des Vokabulars zwar selten auf eine explizit heroisierende Terminologie rekurriert, inhaltlich hingegen sehr wohl Funktionalisierungen vornimmt, die ohne ältere Traditionen des Sprechens über Helden nicht denkbar ist, diese aber einer ausgeprägten Relecture unterwirft.

Darüber hinaus konnte durch den Rekurs auf eine nicht-essentialistische Definition von Held und eine Fokussierung auf die kommunikativen und sozialen Prozesse von Heroisierung festgestellt werden, dass ‚Heilige‘ und ‚Helden‘ sehr ähnlich funktionalisiert werden. Beide stellen den gestalthaften Fokus einer Verehrergruppe dar und dienen somit der Selbstverortung und Identitätsbildung der Gemeinschaft. Darüber hinaus werden durch die verehrte Figur Gemeinsamkeiten und Differenzen mit klar abgegrenzten Kollektiven verhandelt.

Die Impulse des SFB haben dazu beigetragen, das meist als ‚liturgische Dichtung‘ verstandene und entsprechend ausschließlich nach philologischen und literarischen Gesichtspunkten analysierte liturgische Material unter Einbezug einer historisch-rezeptionsästhetischen Perspektive zu untersuchen. Außerdem hat die SFB-Fragestellung einen Perspektivwechsel mitangeregt, weg von der heroisierten Person hin zu den Prozessen, durch die einer historischen oder fiktiven Person eine wie auch immer geartete Heroisierung zukommt. Hierbei standen folgerichtig vor allem die „Heldenmacher“ und das Publikum der Heiligen im Mittelpunkt der Untersuchung. Durch diesen Perspektivenwechsel hat sich das Interesse von der Untersuchung der Charakteristiken, die dem Heiligen zugesprochen werden, hin zu dessen Funktion im Kontext einer Verehrergemeinschaft entwickelt.

In einem gemeinsamen Workshop mit dem Teilprojekt A2 und Prof. Dr. Gunnel Ekroth (Uppsala) zu „Cultic Worship of Heroic Figures in Greek Antiquity, Late Antiquity and the Early Middle Ages“ konnten Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen paganen Heroen und christlichen Heiligen erarbeitet werden.
Durch das assozierte DFG-Projekt „Heilige Heroen – Heroische Heilige. Interdependenzen, Verflechtungen und Transformationen von Leitbilddiskursen im skandinavischen Früh- und Hochmittelalter“ von Fiona Fritz in Kiel unter Leitung des ehemaligen Teilprojektleiters Prof. Dr. Andreas Bihrer sowie in Kooperation mit dem vormaligen Projektbearbeiter Stephan Bruhn konnte ein hagiographischer Forschungsschwerpunkt entstehen. Diese Kooperation wurde an zahlreichen Kolloquien in Freiburg und Kiel gefestigt. Eine gemeinsame Abschlusstagung der beiden Projekte fand im Oktober 2016 in Kiel unter dem Titel „Heiligkeiten. Konstruktionen, Funktionen und Transfer von Heiligkeitskonzepten im europäischen Früh- und Hochmittelalter“ statt. Beide Projektmitarbeiter haben dort ihre Ergebnisse vorgestellt. Eine Publikation der Tagungsbeiträge ist gesichert.

Auch im Rahmen des Abschiedskolloquiums von Prof. Dr. Felix Heinzer zum Thema „Notkerus heroicarum virtutum cultor. Notker I. von St. Gallen (um 850–912) als dichterisch-musikalische Referenzfigur“ wurden weitere mittelalterliche Heroisierungsmöglichkeiten beleuchtet. Ein enger Austausch mit dem „Arbeitskreis für hagiographische Fragen“ und zur DFG-Forschergruppe „Sakralität und Sakralisierung“ jeweils unter der Leitung von Prof. Dr. Klaus Herbers in Erlangen hat stattgefunden und sich in der Teilnahme an der Tagung „Neue Forschung zu hagiographischen Fragen“ im April 2016 fortgesetzt.

Die Bedeutung der liturgischen Performanz im Bereich der Heiligenverehrung wurde im Rahmen zweier Gastvorträge mit anschließendem Workshop im Rahmen des Mittellateinischen Kolloquiums über den SFB hinaus diskutiert. Auch auf dem internationalen Studientag „Liturgy in History“ der Queen Mary University London wurden SFB-Perspektiven vorgetragen. Genauso konnten die Ergebnisse durch einen Vortrag beim International Medieval Congress 2015 in Leeds zum einschlägigen Thema „Reform and Renewal“ vor einer größeren Forschergemeinschaft zur Diskussion gestellt werden.


Publikationen des Teilprojekts

  • Heinzer, F. / Leonhard, J. / von den Hoff, R. 2017: Sakralität und Heldentum (Helden – Heroisierungen – Heroismen 6), Würzburg.
  • Heinzer, F. 2015a: “Hos multo elegantius, si ecclesiastica loquendi consuetudo pateretur, nostros heroas uocaremus”. Sprachbilder im frühchristlichen Märtyrerdiskurs, in: R. von den Hoff / F. Heinzer / H. W. Hubert / A. Schreurs-Morét (Hrsg.), Imitatio heroica. Heldenangleichung im Bildnis (Helden – Heroisierungen – Heroismen 1), Würzburg, S. 119–136.
  • Heinzer, F. 2015b: Poesie als politische Theologie. Texte und Kontexte der liturgischen Verehrung König Ludwigs des Heiligen, in: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 42, S. 73–92.
  • Ferro, E. 2014.: „Suavissime universorum Domine“ - Eine „konstanzische“ Maria Magdalena-Historie in Hirsau?, in: Archiv für Liturgiewissenschaft 56, S. 49–74.
  • Jiroušková, L. 2014: Der heilige Wikingerkönig Olav Haraldsson und sein hagiographisches Dossier: Text und Kontext der „Passio Olavi“, 2 Bde. (Mittellateinische Texte und Studien 46), Leiden/Boston.
  • Studt, B. 2016: Die Ambiguität des Helden im adligen Tugend- und Wertediskurs, in: C. Witthöft / O. Auge (Hrsg.), Ambiguität im Mittelalter. Formen zeitgenössischer Reflexion und interdisziplinärer Rezeption (Trends in Medieval Philology 30), Berlin/Boston, S. 305–316.

 

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